Ein Jahr ins gelobte Land! Hier erfahrt ihr mehr über mein Leben vor Ort.

Montag, 28. November 2011

1. Rundbrief

1.  Rundbrief

Inhalt: Die Arbeit und das Projekt

Liebe Familie, Freunde und Bekannte,

wie schnell doch drei Monate dahinfliegen. Denke ich jetzt an die Planung des Auslandsjahres zuhause zurück kommt es mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Wenn ich dann aber an all das bisher Erlebte denke, so kommt es mir vor, als würde ich schon viel länger hier sein.

Ich sehe mich noch auf dem Ausreiseseminar mit all den anderen Freiwilligen, die nun alle in ihren Projekten in den verschiedenen Ländern angekommen sind.
Was ich hier bisher erleben durfte ist unglaublich und kommt nun nach dem Abitur einer 180° Wende gleich. Abgesehen vom täglichen Weckerklingeln um 7 Uhr morgens hat sich mein Leben komplett verändert.

  1. Das Projekt

Um ehrlich zu sein müsste es bei mir „Die Projekte“ heißen. Warum werde ich im Folgenden erklären. Ich wohne in Beit Perry, einem Wohnhaus für 18 erwachsene Autisten in Ra’ananna, einer Stadt, nur kurz hinter dem Einzugsgebiet von Tel Aviv. Die Bewohner (Chaverim: wörtlich Freunde) sind zwischen 20 und 40 Jahren alt. Im Wohnheim leben Frauen und Männer gemischt. In dem Projekt sind die Bewohner in 3 Häuser eingeteilt. Das Rote, das Grüne und das Blaue. Im roten Haus sind hauptsächlich kategorisierte High- Function Bewohner. Das bedeutet, dass diese nur geringe Hilfe in alltäglichen Dingen brauchen. Pflege benötigen sie nicht. Im blauen Haus wohnen sogenannte Middle- Function Personen. Auch hier ist Pflege nicht von Nöten. Die Bewohner können sich aber nur eingeschränkt artikulieren. Im Grünen Haus befinden sich kategorisierte  Low- Function Personen. Diese sind auf Pflege angewiesen und sind zum großen Teil nicht verbal und benötigen ständige Betreuung.
In diesem Projekt wohne und lebe ich, was so viel heißt, dass ich hier mein Apartment habe. Arbeiten tue ich allerdings in einem anderen Projekt.

Jeden Morgen werden alle Chaverim um halb 8 von einem Bus abgeholt, der sie zu einer Werkstatt Hadassim fährt. Diese Tageseinrichtung befindet sich gute 20 Minuten, im Berufsverkehr 45 Minuten von Beit Perry entfernt. Ursprünglich wurde sie als Garten konzipiert, wurde aber vor etwa einem halben Jahr im Zuge einer Umstrukturierung in ein Gebäude verlegt. Werktags (Sonntag bis Donnerstag) fahre ich also mit den Bewohnern zu dieser Einrichtung. Auch hier sind die „Chaverim“ entsprechend ihren Fähigkeiten in High-, Middle-, und Low- Function Groups eingeteilt. Zu unseren Bewohnern kommen dort noch weitere Chaverim anderer Hostels hinzu, wodurch dort momentan 42 Autisten beschäftigt sind.

  1. Die Arbeit

Ich selber arbeite in einer der zwei High- Function Groups in Hadassim. Im  Folgenden werde ich meinen Arbeitstag in der Gruppe exemplarisch darstellen. Es sei aber angemerkt, dass andere Gruppen entsprechend ihren Möglichkeiten variierende Tagesabläufe haben.

Morgens wird der Tag mit einer Begrüßungsrunde begonnen. Danach geht es in den Garten, der von dem neuen Gebäude ca. 10 Minuten zu Fuß entfernt liegt. Der Garten von Hadassim ist heute ein Gemeinschaftsprojekt einer nahegelegenen High- School und der Tageseinrichtung für Autisten. Die Gartenarbeit umfasst die Schwerpunkte Kehrarbeiten, Pflanzarbeiten, Gießen und Sortierarbeiten.

Um 10 Uhr geht es zurück in das Gebäude und es wird gefrühstückt. Anschließend wird getöpfert, was die Hauptbeschäftigung meiner Gruppe darstellt.

Von 11 bis 13 Uhr arbeiten die Chaverim an kleinen und großen Tonschüsseln, die anschließend gebrannt und glasiert werden. Ziel des Ganzen ist eine eventuelle Vermarktung dieser handgemachten Hadassim Produkte. Das Programm läuft nun seit einem halben Jahr und steht damit noch am Anfang. In anderen Einrichtungen hat es sich schon als Erfolg erwiesen. Nicht ganz unkritisch möchte ich beifügen, dass der Ertrag der Produkte nicht als Entlohnung der Chaverim angedacht wird. Wie sich das ganze Programm entwickeln wird ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer einschätzbar. Die ersten 100 Schüsseln sind fertig und werden vorerst im Lagerraum bleiben, bis sich ALUT (THE ISRAELI SOCIETY FOR AUTISTIC CHILDREN) Gedanken über die Vermarktung gemacht hat.

Um 13:30 Uhr gibt es schließlich Mittagessen. Je nach Wocheneinteilung kann es vorkommen, dass ich auch beim Tellerwaschen helfen muss, wodurch mein Tag dann mit dem Mittagessen endet. Bedeutet, dass ich dann für die nächsten 2 Stunden so beschäftigt bin, dass ich gerade rechtzeitig zur Rückfahrt nach Beit Perry fertig werde. 

Bin ich nicht für den Abwasch zuständig, so beschäftige ich die Chaverim von 14:30 bis 15:00 Uhr mit Schraubarbeiten. Hadassim hatte vor einigen Jahren einen Vertrag mit einer nahegelegenen Metallfabrik. Heute gibt es immer noch genug Klemmen (Halterungen um Rohre an Wänden zu befestigen) und Schrauben, die die Chaverim ineinander verschrauben. Ursprünglich wurden Pakete gefüllt und an die Fabrik zurückgesendet. Als sich dieses Programm als wenig rentabel für die Fabrik herausstellte wurde es eingestellt. Dennoch ist es immer noch ein Hauptbestandteil im Arbeitsalltag in Hadassim. Fertige Klemmen werden wieder auseinandergeschraubt und den Chaverim erneut gegeben. Das klingt im ersten Moment sehr gemein, ist aber nicht vermeidbar um die, für Autisten, so wichtige Routine aufrecht zu erhalten.

Um 15 Uhr wird eine gemeinschaftliche Reflektionsrunde abgehalten. In dieser dürfen die Chaverim sagen, was ihnen am Besten am Tag gefallen hat und auch, was sie nicht so schön fanden. Schlussendlich geht es um 15:30 dann wieder zurück nach Beit Perry.





ANMERKUNG: Bei allen Zeitangaben sei vermerkt, dass diese sehr unzuverlässig sind und durch viele Variabeln stark verzehrt werden können. Dazu gehören Stromausfälle, aber auch „Ausraster“ und kurzfristige Ausfälle von Betreuern. Zuzüglich werden seit einem Monat Profile der Autisten von einer Verhaltenspsychologin erstellt. Dadurch kommen Einzelprogramme, wie Spaziergänge, Sport und Pausenbetreuungen hinzu.  Diese können auf Grund von Personalmangel oft nur unzureichend erfüllt werden. Alles in allem entsteht so häufig ein sehr unstabiles Konstrukt.

  1. Ausschnitt des Verhaltensprofils des Chaverim X

Autisten sind alle unterschiedlich. Low-, Middle-, oder Highfunction sind hierbei notdürftige Kategorisierungen, die mehr die Nützlichkeit, als die intellektuelle Begabung behandeln. Als Beispiel möchte ich einen Chaverim aus meiner High- Function Group beschreiben. Dieser Chaverim X ist nicht in der Lage seinen eigenen Willen zu äußern. Das heißt soviel, als dass er niemals etwas machen würde ohne das man ihn dazu auffordern würde. So kam es vor, dass er zur Toilette geschickt wurde um sich die Hände zu waschen, dann aber vergessen wurde. Vor einigen Tagen blieb er eine ganze Stunde vor dem Waschbecken stehen. In dieser Zeit hatte der Rest der Gruppe bereits zu Mittag gegessen. Seine Funktionalität ist somit eigentlich nicht der Gruppe angemessen. Ihm müsste wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, als dies in der Gruppe möglich ist. Als Low- oder Middle- Function kann er allerdings auch nicht kategorisiert werden, da seine Arbeit, so wenn man ihn denn dazu auffordert und ermutigt, dem eines High- Function Mitglieds entspricht.
Die Verhaltensweisen sind oft sehr befremdlich und für uns oft nicht verständlich. „In einer anderen Welt leben“ trifft den Nagel wohl auf den Kopf, denn wie sonst kann man eine komplette Missachtung der eigenen Bedürfnisse deuten?
Für mich bedeutet ein Tag in Hadassim oftmals auch einen Tag der Selbstreflektion, denn man lernt geduldiger und bedachter mit Menschen zu interagieren. Und wenn man denkt man hätte den Dreh raus, so wird man schnell wieder auf den Boden der Tatsache zurückbefördert.

Insgesamt haben sich meine Erwartungen an die Arbeit nicht bestätigt. Als ich in Israel ankam, hatte ich mir die Arbeit leichter vorgestellt und auch geordneter. Nach dem ersten Monat der Einfindung habe ich dann aber das Potenzial dieses Gegenteils erkannt. Die Arbeit kann nicht langweilig werden, da man nie weiß, was auf einen zukommt. Natürlich ist man auch geschafft nach der Arbeit, aber was kann es schöneres geben, als die Chaverim glücklich nach Hause zu bringen? In gewisser Weise stehe ich hier in Israel im Leben der Autisten. Dadurch, dass ich direkt im Projekt wohne kann ich mich nur begrenzt von der Arbeit abschotten und die Wände lassen einige Geräusche durchdringen.
Mittlerweile sind es bekannte Geräusche, die mich auch nach längeren Reisen immer mit einer gewissen heimatlichen Verbundenheit nach Beit Perry zurückkehren lassen.
Wandlungsfähigkeiten in sich entdeckt wohl jeder, der mit Autisten zusammen arbeitet, aber es ist erstaunlich diese erst dann zu entdecken, wenn der Wandel bereits vollzogen ist. Inwieweit das ein Irrtum ist werde ich wohl erst nach diesem Jahr beurteilen können.


Bis dahin verbleibe ich in Besten Grüßen in das winterliche Deutschland.
Über meinen Blog halte ich euch auf dem aktuellsten Stand.

Liebe Grüße

Peter
 



Sonntag, 20. November 2011

Seminar

Wie vor längerem schon erwähnt war ich diesen Monat auf einem Volontärseminar in Nachsholim, einem Kibbutz in der Nähe von Haifa. Vorab einen herzlichen Dank an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, welches das Dialog Institut in Seminaren bereitwillig unterstützt.
In 3 Tagen wurden uns 20 Volontären Hintergründe von  hochrangigen Glaubensautoritäten beider Seiten erörtert. Die Informationsmenge war mehr als zufriedenstellend.
So trafen wir unter anderem auch den Gründer des ersten Holocaust Museums in der arabischen Welt. Ohne weiter darauf einzugehen verlinke ich hier auf einen etwas älteren Bericht des Spiegels über diesen Mann. (Spiegel Artikel)
Besonders beeindruckend stellte sich ein Treffen mit dem Bürgermeister des israelisch-palästinensischen Städtchens Barta'a im Westjordanland heraus.

Blick auf den arabischen Stadtteil

Blick auf die Müllgrenze

Müllgraben und gleichzeitige Grenze
Der besagte Bürgermeister hat Familie sowohl im palästinensischen als auch im israelischen Stadtteil. Als wir mit ihm durch die Stadt spazierten kannte er alle Geschäftsbesitzer auf beiden Seiten. Das augenscheinlichste Problem im arabischen Teil ist die, von der palästinensischen Autonomiebehörde, unregelmäßig organisierte Müllentsorgung, sowie teilweise die Strom- und Wasserversorgung. Der Grenzübergang selber ist im ausgetrockneten Flussbett (siehe Bild 3). Ein gutes Beispiel für Politik im realen Leben.
Nach dem Seminar musste ich erst einmal gucken wo mir der Kopf steht und so bin ich jetzt erst spät zu einem Blogeintrag gekommen.
Ein Tipp an alle Israelreisenden: Depositioniert euch von der Politik. Das wird allgemein akzeptiert, ja ist sogar erwünscht!

Für die nächsten Wochen habe ich mir vorgenommen in die Westbank zu reisen und hoffentlich einmal richtigen arabischen Hummus zu essen, denn dieser Kichererbsenbrei macht mich einfach verrückt.  Ich hoffe nur das ich nicht bald den Ruf meines Vorgängers an mir heften habe, und sehe mich nicht als Hummus-"Fresser".

Auf Bald,
Peter


Strand in Nachsholim

Haifa im Sonnenuntergang

Mittwoch, 16. November 2011

Israelische Mentalität 2.0

Das sog. "Ausschmücken" von Erzählungen kann nicht mit "Lügen" gleichgesetzt werden.

Donnerstag, 3. November 2011

Balagan am Ende der Woche

Wie bekannt endet die jüdische Woche Donnerstags und beginnt am Sonntag. Allein das fordert dem gemeinen Deutschen schon so einiges ab. Um ehrlich zu sein habe ich mich bis heute noch nicht wirklich damit abfinden können und bemerke sehr oft, dass ich immer noch in unserem Wochenaufbau denke. 

Für die Friends (chaverim) ist so ein Wochenende etwas ganz besonderes. Die Meisten übernachten dann nämlich bei ihren Familien. Und dann kann so ein Ende der Arbeitswoche sehr chaotisch verlaufen. Statistisch gesehen vergrößert sich zumindest die Wahrscheinlichkeit von einem Friend  gebissen zu werden, je weiter die Woche fortgeschritten ist. Heute und Gestern wurden zwei der Guides in die Schulter gebissen (Ich bin so froh das mir das bisher erspart geblieben ist) und ich muss sagen, dass der heutige Tag das Sahnehäubchen der Woche gewesen ist. Nach dem  Bissvorfall war der betroffene Guide erstmal nicht mehr einsatzfähig, was zur Folge hatte, dass die Gruppe für die der Guide zuständig war unbeaufsichtigt blieb. Diese 10, nun unbeaufsichtigten Friends wurden in meine Gruppe gesteckt. Im Endeffekt waren dann 3 Guides (einschließlich mir) für 20 Friends zuständig. Natürlich mussten wir immer noch unser Tagesprogramm durchziehen. Dazu kamen Einzelprogramme für bestimmte Friends, wie  Toilettengänge zählen, Auflockerungsübungen, Sport und Spaziergängen. 
Zuzüglich durfte ich mich 3 Dauerpatienten stellen, die von dem Ganzen durcheinander so verwirrt waren, dass sie mir für den Rest des Tages mit Bruchstücken englischer Sprache, wie "I love you", "You told me?" oder auch "Where is the prospect?" hinterherliefen. Was sie eigentlich von mir wollten konnten sie natürlich nicht ausdrücken. Sie wollten mich fragen warum die Dinge heute anders liefen als normal und das konnte ich ihnen bei meinem besten Hebräischwillen nicht gut erklären. 

Zum Glück gibt es aber auch schönere Tage und so freue ich mich  auf die nächste, kurze Woche. Von Dienstag bis Donnerstag geht es auf ein Seminar in Haifa zum Thema: "Die Rolle der Religionen im israelisch-palästinensischen Konflikt“.

Ich verbleibe in Besten Grüßen in die Heimat.
Bis dann
Peter

P.S.: Über Allerheiligen war ich in Akko. Hier ein paar Fotos